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- Hätten die Nazis
gestürzt werden können?
- Einige revolutionstheoretische
Überlegungen zum Aufstand der Rosenstraße-Frauen
1943
- von G. Hogweed
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- Entnommen aus: http://www.graswurzel.net/251/rosen.shtml
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- Über den erfolgreichen
Widerstand der Berliner Frauen in der Rosenstraße ist in der
GWR immer wieder berichtet worden (vgl. GWR 138, 149, 176, 222):
während der ersten Märzwoche im Jahr 1943 gelang es
insgesamt ca. 1000 Frauen, die in Mischehen mit jüdischen
Männern lebten, mit öffentlichem, unbewaffnetem zivilen
Ungehorsam ca. 1700 Juden, die deportiert werden sollten, frei zu
bekommen. Einige wurden deshalb sogar aus Auschwitz, wohin sie
schon deportiert worden waren, zurückgeholt. Die Frauen
hatten sieben Tage lang, oftmals auch die ganze Nacht hindurch,
vor dem Sammellager in der Rosenstraße demonstriert.
Manchmal wurden Maschinengewehre gegen sie aufgefahren und sie
flüchteten in angrenzende Hauseingänge - aber immer
wieder kamen sie zurück und schrien: "Gebt uns unsere
Männer wieder!" oder "Mörder!" Es war die
größte und erfolgreichste innerdeutsche
Widerstandsaktion während der gesamten Zeit des
Nationalsozialismus.
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- Die bisher wichtigste und
umfassendste Studie zu diesem Aufstand, diejenige von Nathan
Stoltzfus nämlich, ist nun endlich auch in deutscher Sprache
erschienen:
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- Nathan Stoltzfus: Widerstand
des Herzens. Der Aufstand der Berliner Frauen in der
Rosenstraße - 1943, Hanser Verlag, München/Wien 1999,
476 S., 54 DM.
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- Während die englische
Originalausgabe bereits in der GWR besprochen wurde und dort
besonderer Wert auf die zweifellos detaillierten Darstellungen
Stoltzfus' zu Geschichte und Statusänderungen von Mischehen
vor und während der Nazi-Zeit gelegt wurde (vgl. GWR 222,
lib. Buchseiten), möchte ich das Erscheinen der
deutschsprachigen Ausgabe zum Anlaß nehmen, auf die
aufstandstheoretischen Passagen des Buches einzugehen, denn auch
sie sind ungeheuer spannend und verführen zum gedanklichen
Weiterspinnen der Aktion, die vielleicht auch hätte zum Sturz
der Nazis führen können. In jedem Fall kann die
Wichtigkeit dieses Buches gar nicht überschätzt werden,
sowohl für die Theorie des Rassismus und Antisemitismus, weil
es am Beispiel der Mischehen klar macht, daß genau bei
diesem Thema der wissenschaftliche Rassismus versagen mußte
und auch praktisch versagt hat; des weiteren für alle
Frauenbewegungen, weil es zeigt, wie beherzt und radikal
Frauenwiderstand auch in dieser Zeit aussehen konnte und wie sich
Frauen im Widerstand gegenseitig gestärkt haben; aber auch
für alle, die sich der Gewaltfreiheit oder des gewaltfreien
Anarchismus verschrieben haben und sich immer wieder die bange
Frage stellen, ob das nicht im Angesicht des Nationalsozialismus
völlig versagen mußte. Stoltzfus beweist eher das
Gegenteil.
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- Die Nazi-Führungsriege war
wahrscheinlich das Brutalste, was die Welt gekannt hat - aber sie
war nicht blöd. Stoltzfus zeigt auf, wie Hitlers Machttheorie
aussah. In der "Schlußaktion" gegen die letzten in Berlin
lebenden Juden, die in Ehe mit deutschen, "arischen" Frauen
lebenden jüdischen Männer, sah die
Nazi-Führungshierarchie so aus, daß nach Hitler
zunächst Goebbels, dann erst Himmler kam. Goebbels, der
für den Gau Berlin den Oberbefahl inne hatte, teilte Hitlers
Machttheorie, Himmler sehr viel weniger. Hitler ging seit dem
Ersten Weltkrieg, in dem er als "Gefreiter" mitgekämpft
hatte, um dann den "Dolchstoß" der Revolution von 1918/19
erleben zu müssen, von einer Theorie der Macht aus, die
keineswegs allein auf Terror beruht. Stoltzfus: "In 'Mein Kampf'
erklärte Hitler, daß Unterstützung durch das Volk
die Hauptgrundlage politischer Macht sei. Die erste Grundlage
für die Schaffung von Autorität sei immer
Popularität. Wenn sie sich diese Unterstützung
verschafft hat, muß die politische Führung Gewalt
einsetzen, die zweite Grundlage aller Autorität, um ihre
Macht zu festigen. Politische Macht, die sich durch allgemeinen
Rückhalt beim Volk etabliert hat und mit Hilfe von Gewalt
stabilisiert worden ist, hätte aber keinen Bestand, wenn sie
nicht durch soziale Traditionen gestützt würde, jenen
letzten Grundstein der Macht." (S. 26)
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- Freiwillige Unterstützung
(nichts anderes ist Popularität), Gewalt und soziale
Traditionen waren also die subjektiven Bestandteile der
Machttheorie von Hitler und Goebbels. Stoltzfus zeigt auf,
daß beide diese Machttheorie immer im Hinterkopf behielten,
bei allem, was sie auch taten. Mit "sozialen Traditionen" waren
bestimmte Gewohnheiten wie der christliche Glaube gemeint, woraus
sich die Politik des Ausgleichs der Nazis mit der Kirche ebenso
ergab wie der Abbruch von Kampagnen, gegen die sich die Kirche
wandten, z.B. das Entfernen der Kruzifixe in den Schulen in den
dreißiger Jahren oder das offene Euthanasie-Programm 1941.
Gegen beides wandte sich die katholische Kirche offen und mit
Erfolg. Für die Mischehe spielte die soziale Tradition
insofern eine Rolle, als damals "Scheidung" aus christlichen
Gründen unpopulär war, weshalb die Nazis ein
Scheidungsgesetz gegen in Mischehe mit Juden verheiratete deutsche
Frauen immer wieder hinauszögerten. Soziale Traditionen
sollten nach Maßgabe der Machttheorie Hitlers nur langsam
verändert werden, im Zweifel erst nach dem gewonnenen
Krieg.
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- Es kann gar nicht deutlich
genug darauf hingewiesen werden, daß diese Machtheorie aus
Hitlers Erfahrung der Niederlage im Ersten Weltkrieg stammte.
Seiner Wahrnehmung nach wurde der "Dolchstoß" damals von
zwei Strömungen geführt: dem Pazifismus und den Frauen.
Und in der Tat waren ja die großen Friedensdemonstrationen
des Jahres 1918 mehrheitlich Frauendemonstrationen. Hitler nahm
also wahr, daß öffentliche Unzufriedenheit von Frauen
im eigenen Hinterland die Kriegsanstrengungen an der Front und
damit eine vermeintlich unantastbare Macht vollständig
zerstören konnten. Es war für ihn eine Lehre: sowas
sollte sich nie wiederholen. Doch der Widerstand der
Rosenstraße-Frauen drohte genau jene Konstellation zu
wiederholen: das Kriegsglück hatte sich seit Stalingrad
gewendet, Berlin wurde bombardiert, die offen sogar gegen
Maschinengewehre protestierenden Frauen drohten die Macht der
Nazis zu zerstören, wenn sie zu einer Massenbewegung
würden. Deshalb wurde ihren Forderungen
nachgegeben.
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- Zeitlich zusammen mit dem
Widerstand in der Rosenstraße fiel auch die Mobilisierung
von ca. 5 Mio. weiblichen Arbeitskräften für die
Kriegsindustrie, um auf einen Anteil von Frauen in der Industrie
von 61 Prozent zu kommen, wie das in England bereits der Fall war
und für einen "totalen Krieg" (Goebbels) für nötig
befunden wurde. Doch viele Frauen kamen dem nicht
nach:
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- "Als sich in jenem Februar
erstmals ein für Deutschland katastrophaler Kriegsausgang
abzeichnete, begehrte der weibliche Teil der Bevölkerung auf
und zeigte sich nicht gewillt, weiter die Härten und
Entbehrungen hinzunehmen, die der Krieg mit sich brachte. Es
erinnerte alles sehr stark an 1918, und eine Auflehnung, wie sie
es damals gegeben hatte, war für die Nazis seit eh und je ein
Schreckgespenst gewesen. Nur sehr wenige Frauen weigerten sich
ganz direkt - sozusagen in einem bewußten Akt
bürgerlichen Ungehorsams -, den Befehlen des 'Führers'
Folge zu leisten, doch Geheimagenten des SD berichteten, daß
es in der weiblichen Bevölkerung immer mehr Anzeichen
für Defätismus und Kriegsmüdigkeit gebe.
Frankfurter Bürgerinnen hätten angeblich gesagt,
daß dieser Wahnsinn bald vorbei wäre, wenn sich alle
Frauen zusammentäten. Hunderttausende von Frauen aus dem
gesamten Reichsgebiet meldeten sich krank: Sie könnten leider
die ihnen zugewiesenen Aufgaben nicht übernehmen. Rasendes
Kopfweh, plötzliche Nebenhöhlenentzündungen,
chronische Rückenschmerzen, hartnäckige
Erkältungen, Infektionen der verschiedensten Art oder auch
Knochenbrüche hinderten sie bedauerlicherweise daran. Die
Gestapo von Karlsruhe konstatierte: Es gibt gar nicht so viele
Krankheiten, wie hier beim Arbeitsamt in Traglasten von
Gesundheitsattesten genannt worden sind. Viele Frauen behaupteten
auch, daß sie sich dringend auf eine Reise begeben
müßten, schwiegen sich aber darüber aus, wohin
diese sie führen würde oder wann sie wieder daheim sein
würden. (...) Weil sich so viele Frauen auf diese Weise ihrer
Zwangsverpflichtung entzogen, berichtete Speers Ministerium
für Rüstung und Kriegsproduktion Anfang 1944, daß
es 'die Mobilisierung der deutschen Frauen für die
Kriegsanstrengungen als völlig gescheitert' ansehen
müsse." (S. 274) Wäre auf die Rosenstraße-Frauen
geschossen worden oder ihren Forderungen nicht nach wenigen Tagen
entsprochen worden, wäre dieses massenhafte Potential
womöglich "explodiert" und hätte den Protest auf die
Straße getragen.
-
- Innerhalb vieler linker oder
antifaschistischer Gruppen wird die revolutionstheoretische und
machtzerstörerische Dimension des Rosenstraße-Proteste
überhaupt nicht gesehen oder gewürdigt - natürlich
weil es sich um eine unbewaffnete Demonstration handelte. Oft wird
zur Relativierung angeführt, die demonstrierenden Frauen
seien ja privilegierte "Arierinnen" gewesen. Stoltzfus zeigt
dagegen, daß die mit Juden verheirateten Frauen am untersten
Ende der Skala der als deutsch aktzeptierten Bevölkerung
standen, oft jahrelang von NachbarInnen und Behörden als
"Huren" schikaniert oder Vorwürfen der "Rassenschande"
ausgesetzt, weil sie innerhalb der jüdischen Familien lebten.
Deutsche Männer ließen sich aus Karrieregründen
viel schneller von jüdischen Frauen scheiden und begaben sich
durch ihre Verbindung auch nie so stark ins jüdische Milieu -
einer der wichtigsten Gründe dafür, daß es weit
mehr deutsche Frauen waren, die mit jüdischen Männern
verheiratet waren als umgekehrt. Abgesehen davon: für die
Zerstörung der Macht der Nazis war es natürlich
nötig, daß sich Teile der Mehrheitsbevölkerung
gegen sie auflehnten. Was von antifaschistischen Gruppen immer
gefordert wurde, daß nämlich Deutsche sich gegen die
Nazis wehrten, kann nicht gerade dann zur Relativierung
herangezogen werden, wenn sie es tatsächlich mal taten.
Manche Deportationspläne der Nazis sahen vor, auch die mit
Juden verheirateten Frauen zu den Vernichtungslagern mitzunehmen.
Schon ihr Leben vor dem März 1943 war ungeheuer mutig, ihr
entschlossener Widerstand umso mehr.
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- Dabei waren einige Frauen nicht
ganz so unpolitisch, wie es zunächst den Anschein hatte.
Stoltzfus: "Frau Weigert hatte schon von öffentlichem Protest
als Mittel der Einflußnahme auf die Politik gehört; sie
hatte von Mahatma Gandhi gelesen und davon, wie er die Massen
seines Landes mobilisiert hatte. (...) Einige Frauen, die sich da
in der Rosenstraße versammelt hatten, hatten sicherlich
etwas über die in der Weimarer Republik so häufigen
Protestkundgebungen von Kommunisten oder Sozialisten gehört
oder diese sogar persönlich miterlebt; vielleicht
wußten sie auch noch von den ja vor allem von Frauen
getragenen Massenprotesten und Straßenaufständen gegen
den Ersten Weltkrieg und für das Frauenwahlrecht." (S.
303)
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- Kurzum: der Frauenaufstand in
der Rosenstraße fand in einer gesellschaftlichen
Umbruchsituation statt, in der sich das Kriegsglück wendete
und Hunderttausende Frauen nach Auswegen suchten, um nicht in der
Kriegsindustrie für den "totalen Krieg" zu arbeiten. Die
Demonstrationen hätten sich in dieser Situation genauso gut
wie ein Lauffeuer ausbreiten können und eine Situation wie
1918 heraufbeschwören können: Hitlers Macht untergraben
- eine Revolution gegen die Nazis! Nie war sie so nah und
möglich wie in jener ersten Märzwoche 1943. Stoltzfus
abschließend in seinem wunderbaren Buch:
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- "In jedem Fall veranlaßte
die schon früh von in Mischehe lebenden Deutschen geleistete
Opposition das Regime dazu, die Deportation von Juden mit
deutschen Ehepartnern zunächst einmal hinauszuschieben, und
die betroffenen Deutschen hatten so die Möglichkeit, mit
einer 'friedlichen' Protestversammlung statt mit Waffengewalt
unter Beweis zu stellen, daß sie weiterhin für das
Leben ihrer Angehörigen kämpfen würden. Obwohl sie
nicht das höchste Opfer brachten, so riskierten sie doch
zumindest ihr Leben; sie wären mit Sicherheit zu
Märtyrern geworden, wenn sie zu Waffen gegriffen hätten,
um die Erfüllung ihrer Forderungen zu erzwingen. (S. 368)
Und: "Der Diktator fürchtete Unruhe in der eigenen
Bevölkerung mehr, als er solche Unruhe tatsächlich
erfuhr." (S. 370) "Zur Begründung und Festigung politischer
Macht war Terror bei weitem nicht so wirksam, wie freiwillige
Unterstützung durch das Volk es gewesen war. (...) Die
Geschichte der Mischehen in Nazideutschland zeigt auf, daß
der 'Führer' gesellschaftlichen Einschränkungen
unterworfen war. Gleichgültig, ob Hitler und andere ranghohe
Nazis die Auswirkung gesellschaftlicher Unruhe
überschätzten, wenn man sich intensiver mit dem
Einfluß 'normaler Bürger' auf die Herrschaft der Nazis
und die von ihnen begangenen Verbrechen beschäftigen will,
dann wird man die Millionen von 'Mitläufern' ins Blickfeld
nehmen müssen, die, indem sie nichts taten, ein solches
Verhalten als akzaptable soziale Norm definierten." (S.
371)
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