Die Freilassung von 2000
Berliner Juden aus der Nazi-Haft galt lange Zeit als Wunder. Wie
neueste Forschungen belegen, nicht ganz zu Recht.
Das Jahr 1943 zählt zu den
dunkelsten der jüngeren deutschen Geschichte. Städte
gingen im Bombenhagel unter, Propagandaminister Joseph Goebbels
rief zum "totalen Krieg" auf, und in den Todesfabriken wurde rund
um die Uhr gemordet. So war für die annähernd 2000
Berliner Juden, die die SS Ende Februar in deren Gemeindehaus in
der Rosenstraße zusammengepfercht hatte, das Schlimmste zu
erwarten.
Dann aber versammelten sich
rings um das Zwangsquartier tagelang Hunderte Angehörige,
meist Frauen, die trotz Drohungen durch Polizei und SS die
Freilassung der Eingesperrten verlangten.
Tatsächlich wurden eine
Woche nach Beginn des Massenprotests die ersten Gefangenen nach
Hause geschickt. Der mutige Widerstandsakt hatte im Dritten Reich
"nicht seinesgleichen", urteilte der Schriftsteller Georg Zivier
bereits im Dezember 1945 über das vermeintliche Wunder in der
Rosenstraße.
Doch das legendäre
Geschehen vollzog sich offenbar teilweise nach dem Drehbuch der
Nazis. Der Berliner Historiker Wolf Gruner, 42, kommt nach
eingehenden Studien der Akten des Reichssicherheitshauptamts
(RSHA) zu dem Schluss, dass die Freilassung der inhaftierten Juden
von vornherein geplant war, es folglich der Proteste wohl gar
nicht bedurft hätte*.
Zahlreiche Reportagen und
Forschungsarbeiten über diese vielleicht spektakulärste
unter den seltenen Widerstandshandlungen während des
NS-Regimes hatten bisher ein ganz anderes Bild beschworen. In der
Hauptstadt erinnert sogar ein Denkmal an die Ereignisse in der
Rosenstraße.
Aus der bisherigen Version
zogen Geschichtswissenschaftler den Schluss, dass Deutsche auch
anderswo der Judenverfolgung hätten trotzen können -
hätten sie sich nur ähnlich couragiert verhalten wie die
Demonstranten in Berlin. Dann, so folgert etwa der US-Historiker
Daniel Goldhagen, wäre die "Durchführung des
eliminatorischen Programms erheblich eingeschränkt" worden.
Aber dessen Kollege Gruner, ein
auf Erforschung der Judenverfolgung spezialisierter
Wissenschaftler, belegt, dass sich Hitlers willige Vollstrecker
keineswegs einschüchtern ließen. Sie verfuhren nach
einem ausgeklügelten Plan.
In Berlin lebten Anfang 1943
offiziell noch rund 15 000 Juden, die den Todestransporten bis
dahin zumeist nur deshalb entgingen, weil sie als
Arbeitskräfte gebraucht wurden oder mit nichtjüdischen
Deutschen verheiratet waren. Diese "Mischehen", wie sie in den
Nürnberger Rassengesetzen definiert wurden, schützten
bis in die Endphase vor staatlicher Willkür.
Am 20. Februar hatte das RSHA
"Richtlinien zur technischen Durchführung" der letzten
Massenverschleppungen aus dem Reich erlassen. Sie regelten die so
genannte Fabrik-Aktion, in deren Verlauf die Menschen meist von
ihrem Arbeitsplatz weggeholt und - "schubweise, Tag für Tag
bis zu 2000" (Goebbels) - nach Auschwitz abtransportiert wurden.
"Schlagartig" begann
gemäß RSHA-Befehl überall im Reich am Morgen des
27. Februar "die Evakuierung bzw. Entfernung von Juden aus den
Betrieben". Die von Gestapo-Stellen erfassten Opfer wurden in
provisorischen Sammellagern zusammengetrieben, in Berlin wegen der
großen Zahl auch mit Hilfe der Waffen-SS. 10 948 Juden aus
dem ganzen Reich - rund 7000 aus der Reichshauptstadt -
deportierten die Häscher bei der "Fabrik-Aktion" nach
Auschwitz. Sie wurden dort größtenteils sofort
ermordet.
Dass "arisch Versippte" wie die
meisten aus der Rosenstraße dagegen "in ihre Wohnungen
entlassen" werden sollten, war vom RSHA laut Gruner von Anfang an
vorgesehen. Schon bei der "Wannsee-Konferenz" 1942, die die
Ausrottung der europäischen Juden organisierte, blieben die
in deutscher "Mischehe" Verheirateten ausgenommen. Dass dies auch
bei der "Fabrik-Aktion" gelten sollte, bekamen Kirchenstellen
sogar vom SS-Judenreferenten Adolf Eichmann persönlich
bestätigt.
Freilich wurden 200 Inhaftierte
aus der Rosenstraße dabei zum Mittel in einem perfiden Plan:
Die SS verteilte sie als Ersatzpersonal auf die noch existierenden
jüdischen Einrichtungen Berlins - und deportierte an deren
Stelle etwa 450 Juden, die den schützenden Sonderstatus nicht
besaßen.
Das Gros der Betroffenen kannte
allenfalls die bedrohlichen Gerüchte, die tagelang im Land
kursierten. "Da war immer die Angst, es geht in den Osten", erfuhr
die Regisseurin Margarethe von Trotta, die gegenwärtig einen
Spielfilm über die Rosenstraße dreht und seit Jahren
Gespräche mit Überlebenden führt.
Auch Historiker Gruner will mit
seinen Aktenbelegen nicht das "einzigartige Verhalten" der mutigen
Demonstranten relativieren, die schließlich die
SS-Pläne nicht kennen konnten. Aber zum Symbol für
erfolgreichen deutschen Widerstand gegen antijüdische
NS-Maßnahmen taugt das Ereignis nach seiner
Einschätzung denn doch nicht.
Eine wirksame Opposition, so
Gruner, hätte sich "viel früher und breiter formieren
müssen: 1933 und in allen Schichten der Gesellschaft".
Gruner, Wolf (2002) "Die
Fabrik-Aktion und die Ereignisse in der Berliner
Rosenstraße". In: Wolfgang Benz (Hg.): "Jahrbuch für
Antisemitismus-Forschung 11". Metropol Verlag, Berlin; 340 Seiten;
22 Euro.